Über den Allalin- und Hohlaubgletscher

Eine Eistour nahe des Walliser Sommerhimmels

 

Es ist für Zeitzeugen wohl nicht möglich, den Namen des Stausees Mattmark zu hören oder dort anzukommen, ohne an die Katastrophe vom 30. August 1965 denken zu müssen. Damals war um 17.20 Uhr, kurz vor dem Schichtwechsel, ein mächtiges Stück der Zunge des Allalingletschers abgebrochen. In der Folge wurde das Barackenlager durch rund zwei Millionen Kubikmeter Eis und Geröll, stellenweise über 50 Meter hoch verschüttet. 88 Menschen fanden damals den Tod, 65 ausländische und 23 Schweizer Werktätige. Elf Menschen wurden verletzt. Hätte sich der Gletscherabbruch nur eine halbe Stunde später ereignet, also nach dem Schichtende, hätten sich bis zu 700 Menschen in dem Barackendorf aufgehalten. Obwohl ich damals nur acht Jahre alt war, haben sich mir die Bilder der Katastrophe unvergesslich in meine Erinnerung eingebrannt. Deshalb schaue ich auch diesmal bei der Ankunft am Staudamm mit Beklemmung zum Allalingletscher hinauf, dessen Zunge sich aber zwischenzeitlich bis weit hinauf zurückgezogen hat und vom Tal aus gerade noch zu sehen ist.

Bereits während der sogenannten kleinen Eiszeit zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert spielte der Allalingletscher eine unberechenbare Rolle. In der Ebene von Mattmark bestand ein natürlicher Bergsee, dessen Grösse von Vorstössen und Rückzügen des Gletschers abhängig war. 1589, 1633, 1680 und 1772 stiess der Gletscher jeweils bis zur gegenüberliegenden Seite des Saastals vor und staute das Wasser. Mehrfach kam es in der Folge zu Flutwellen, die nicht nur den Talboden der Saaser Gemeinden verwüsteten, sondern auch Schäden bis hinunter nach Visp anrichteten.

Wir verlassen den höchsten Erdschüttdamm der Schweiz auf dem Fahrsträsschen entlang des Westufers des Stausees und folgen diesem bis unmittelbar nach dem ersten grossen Bach südlich des Tunnels (keine Stirnlampe notwendig), wo bergwärts der weiterhin fahrbare Zuweg der Schwarzbergalp abzweigt. Bei der Alp beginnt der stotzige, aber gute Bergweg zum Schwarzbergkopf hinauf. Dieser Pfad ist weiss-rot-weiss markiert. Im unteren Abschnitt ist er etwas ausgesetzt und erfordert Trittsicherheit. Leider liegt der Aufstieg in der prallen Morgensonne, der wir nicht entkommen, obwohl wir den ersten Bus für die Anfahrt gewählt haben. Dafür gewinnen wir rasch an Höhe, da der Pfad nach Querung der Felsbänder praktisch nur noch in der Falllinie verläuft.

Beim Aufstieg treffen wir auf Saaser Mutten, einen eigenständigen Schlag der Bergamaskerschafe. Sie haben lange, herunterhängende Ohren und einen deutlich gekrümmten Nasenrücken, der Ramsnase genannt wird. Ihr Bestand ist bedroht. 2014 wurden 103 der seltenen Saaser Mutten von italienischen Schäfern gestohlen und über den nahen Ofentalpass, eine alte Schmugglerroute, nach Italien getrieben. Die Diebe wollten mit dem Verkauf der Tiere Schulden abbezahlen. Sechs der gestohlenen Tiere wurden bei Domodossola von italienischen Wildhütern wiederentdeckt, die übrigen waren bereits verkauft und wohl auch geschlachtet worden.

Bis zum Schwarzbergkopf hinauf weitet sich der Blick über den Stausee hinaus auf den Grenzkamm rund um die Jazzilücke sowie den Ofental- und Monte Moropass. Gegen Westen schliessen Schwarzberg- und Strahlhorn die Rundsicht ab. Südwestlich des Schwarzbergkopfes führt ein Pfad durch Geröll und Schnee zum Allalingletscher hinunter, den man in der fast flachen, weitgehend spaltenfreien Zone zuerst in nordwestlicher, dann nördlicher Richtung quert (Abb. 1a). Die Route ist mit Stangen sehr gut gekennzeichnet. Die nun weiss-blau-weiss markierte Pfadspur quert die teilweise auf Eis liegende Blockzone zwischen Allalin- und Hohlaubgletscher in der Nähe der östlich gelegenen Felsabbrüche (Abb. 1b). In diesem Bereich ist erneut Aufmerksamkeit und Trittsicherheit notwendig. Auf dem schmalen Hohlaubgletscher weisen erneut Stangen den Weg und danach weiss-blau-weisse Markierungen zum weithin sichtbaren Weg zur Britanniahütte SAC hinauf (Abb. 2). Die nahen Viertausender Allalin-, Rimpfisch- und Strahlhorn sowie das etwas weniger hohe Fluchthorn dominieren die ganze Zeit über diese herrliche Gletscherpassage. In der Hütte werden wir herzlich empfangen und geniessen das Mittagessen auf der sonnigen Terrasse mit Blick auf den langen Herweg über die Gletscher.

Der erste Abschnitt des früheren Verbindungswegs entlang des Hinter Allalins zur Bergstation Felskinn der Luftseilbahn Alpin Express kann infolge des fortgeschrittenen Gletscherschwunds und des nachlassenden Permafrosts nicht mehr begangen werden. Der aktuelle Weg führt durch die Ebene zwischen Klein Allalin und Egginer zum gleichnamigen Joch hinüber (Abb. 3). Der letzte Abschnitt über den ausgeaperten Chessjengletscher ist teilweise mit weissem Flies abgedeckt, damit eine einfache Passage überhaupt noch möglich bleibt (Abb. 4). Da ich Saas-Fee noch aus meinen Kindertagen kenne, bin ich einmal mehr erschüttert über das Ausmass des Gletscherrückgangs in den Alpen.

Erschreckend für uns war auch die Ausrüstung vieler der Menschen, denen wir auf dieser Gletschertour begegnet sind. Anstelle von festen, hohen Bergschuhen wurden knöchelfreie Laufschuhe ohne brauchbares Profil getragen, die innert kürzester Zeit vor eisiger Nässe trieften. Solche in alle Richtungen verformbare «Gurkenschuhe» haben auf einem Gletscher
nichts verloren. Kurze Hosen trugen zwar der Wärme des Sommertags Rechnung, nicht aber dem notwendigen Schutz bei einem Sturz auf dem Eis. In den modischen, teilweise am Po herumhängenden Rucksäcklein war wohl auch kein Platz für warme Zusatzkleidung, geschweige denn für eine Notfallapotheke, die angesichts des unsicheren Gangs ohne Bergstöcke mehr als angezeigt gewesen wäre. Gletscher bleiben Gletscher, weswegen die Route zu Recht weiss-blau-weiss markiert ist und somit bergerfahrenen Wanderern vorbehalten bleiben sollte, die wissen, was sie tun.


Abb. 1a Blick vom Schwarzbergkopf auf Allalingipgel und -gletscher


Abb. 1b Strahl-, Rimpfisch- und Allalinhorn beherrschen Allalin- und Hohlaubgletscher


Abb. 2 Britanniahütte im Sattel zwischen Hinter und Klein Allalin


Abb.3 Am Fuss des Egginerjochs


Abb. 4 Routenverlauf

Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts.
Johann Wolfgang von Goethe