Stotzig Grätli

Über einsame Bergweiden hoch über Urseren

 

Für diesmal haben wir uns eine leichte Wanderung hoch über Urseren ausgesucht. Auch wenn Urseren ein typisches U-Tal ist, mögen es die Einheimischen nicht, wenn man es mit Tal bezeichnet. Wer also nicht als einer der vielen Fremden erscheinen will, die durch dieses Tal rasen oder auch nicht, lässt das Tal besser weg, wenn er von Urseren spricht. Wir haben in Realp noch etwas Zeit für einen Kaffee im altehrwürdigen Hotel Post, bevor uns der erste Bus von Andermatt zum Furkapass hinauf aufnimmt. Es lohnt sich, dabei einen Blick in den Speisesaal im ersten Stock zu werfen – ein kleiner Schritt in eine vergangene Zeit.

An der Haltestelle Furkapass verlassen wir den Bus, nachdem wir auf der kurzen Fahrt die Geduld und den Humor des Chauffeurs bewundern konnten, aller Unbill ungeschickter Automobilisten zum Trotz. Eine tägliche Arbeit, die Nerven aus Stahl erfordert. So sind wir froh, den lärmigen Pass hinter uns lassen zu können. In südöstlicher Richtung queren wir den stotzigen Hang des Blaubergs in Richtung der Stotzig Firsten oder eben des Stotzig Grätli, dem Felskamm, der das einsame Seitental Mutten vom obersten Teil Urserens trennt. Hier stossen wir auf eine ganz andere Art von Gegenverkehr – nämlich auf mehrere hundert blökende Schafe, die, ihrem Leittier folgend, zu den Matten unterhalb des Blaubergs drängen. Wie Schafe einmal sind, brauchen wir nicht auszuweichen, bringen dafür aber die langgezogene Linie weisser Punkte in laute Unordnung.

Unterhalb des Stotzig Grätli liegen drei Bergseen, die zu einer kurzen Rast einladen, bevor wir die letzten Meter bis zum gleichnamigen Passübergang gewinnen. Leider verwehren uns die Wolken noch den herrlichen Blick auf Klein und Gross Furkahorn sowie auf den Galenstock (Abb. 1). Dafür ist auf der anderen Seite des Übergangs die Sicht frei auf die Muttenhörner und das Gross Leckihorn. Hinter dem Muttenpass ist auch noch die Gipfelpartie des Witenwasserenstocks zu erkennen. Der ausgeaperte Muttengletscher wird in den kommenden Jahrzehnten wohl ganz verschwinden. Gegen Nordosten dehnen sich hoch über dem engen Einschnitt der Muttenreuss die weiten Alpweiden von Deieren aus.

Kaum haben wir den Pass verlassen, umgibt uns eine friedvolle Stille – kein Mensch weit und breit. Bei der Abzweigung des alpinen Verbindungsweges zur Rotondohütte SAC (weiss-blaue Markierung) wenden wir uns vorerst gegen Nordosten in Richtung der Schattmigen Firsten (Abb. 2). Bevor die Pfadspuren hangaufwärts führen, steigen wir nach Osten ab, um die Schattmigen Firsten zu umgehen. So gelangen wir auf der nächst tieferen Hangschulter zu einem kleinen postglazialen See, der zwischen Hang und talseitig zurückgelassener Moräne des Muttengletschers liegen geblieben ist.

Auf dem weiteren Weg, oberhalb der Ruinen des Simmigstafel vorbei zur Hütte am Rande der kleinen, Gässler genannten Ebene, folgen wir den Wegspuren in nordöstlicher Richtung (Abb. 3). Bei klarer Sicht ist es ein Leichtes, den Wegmarkierungen, teilweise mit weiss-rot-weiss angestrichenen Pfosten, zu folgen. Im Nebel jedoch ist auf der ganzen Strecke bis Gässler grosse Aufmerksamkeit gefordert. Zudem folgen die Markierungen häufig nicht der angenehmsten Route. Es lohnt sich also, auf der vorgegebenen Strecke seinen eigenen Weg zu wählen.

Auf der gegenüberliegenden Talseite von Mutten blicken wir auf die Alp Stelliboden hinunter, die heute noch mit Kühen bestossen wird. Auf unserer Seite treffen wir nur auf eine grosse Ziegenherde, die uns neugierig beobachtet. Der Abstieg zu den Hütten von Laubgädem erfolgt über viele Kehren. Der ursprüngliche Weg ist an vielen Stellen durch Viehgang und Wasser stark erodiert, weshalb wir auch hier unsere eigene bequemere Route wählen. Der gesamte Hang ist voller Heidelbeerstauden mit reifen Beeren, sodass wir in Kürze tiefblaue Zungen und Hände haben. Wir nennen das in unserer Familie spasseshalber die Blauzungenkrankheit. Doch es kommt noch besser. Bevor wir unterhalb der Hütten von Laubgädem die Fahrstrasse aus dem Tal von Witenwasseren nach Realp erreichen, stossen wir auf Stauden mit reifen Himbeeren, die wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Eine Woche früher, auf der Rückkehr von einer anderen Bergtour, waren sie noch nicht richtig reif gewesen. Schliesslich werden wir auch noch durch das Fauchen und schweflig-russige Qualmen der Furka Dampfbahn in der Schlucht der Furkareuss überrascht, Geräusche und Gerüche, die uns heute nicht mehr vertraut sind. Voller unterschiedlichster Eindrücke kehren wir von unserer kleinen Tour zurück (Abb. 4).


Abb. 1 Am Stotzig Grätli mit Blick Richtung Klein und Gross Furkahorn sowie Galenstock


Abb. 2 Die Alpweiden Unter den stotzigen Firsten mit Gross Leckihorn, Muttenhörnern und dem gleichnamigen Gletscher


Abb. 3 Galenstock vom Simmigstafel aus


Abb. 4 Routenverlauf

Es ist keine Schande, nichts zu wissen, wohl aber, nichts lernen zu wollen.
Platon