Redrísc und Aròca
Vergessene Alpen hoch über Mergoscia
Von Christian E. Besimo
Mergoscia (Mergòssa), der Ausgangspunkt unserer Wanderung, klebt hoch über dem Lago di Vogorno auf der Westseite der Valle Verzasca. Die einzelnen Dorfteile liegen weit über den Hang verstreut, teilweise durch mehr als zweihundert Höhenmeter voneinander getrennt. Beim Anblick der Dorfkirche werde ich jedesmal daran erinnert, dass früher das amerikanische Landeswappen am Kirchturm prangte und zu jener Zeit daran gemahnte, dass weit über die Hälfte der Bevölkerung, vor allem Männer, ihr Auskommen in Übersee zu finden versuchten. Die kleinen, mehrstufigen Bauernbetriebe wurden zumeist von den zurückgebliebenen Frauen geführt, wobei die Kinder mitarbeiten mussten, um nicht nur die Ackerterrassen und Reben im Dorf, sondern auch Maiensäss und Alp bewirtschaften zu können.
Wir beginnen unsere Rundwanderung im Dorfteil Lissói. Wenige Meter östlich des Parkplatzes beginnt ein kurzes Zubringersträsschen, von dem bergwärts ein steiler Weg abgeht und am Rand einiger Rebterrassen vorbeiführt. Im Herbst ist die Luft erfüllt vom aromatischen Duft der Uva americana, einer traditionellen Rebsorte, aus der ein herber Wein gekeltert wird, der allerdings nicht jedermanns Geschmack ist. Dafür mundet der gesüffige Nostrano, eine Assamblage aus Merlot- und Americanotrauben umso mehr. Er spielt in der Tessiner Gastfreundschaft eine besondere Rolle und wird aus kleinen henkellosen Tassen, Tazze genannt, getrunken. Unter den Alten ist es heute noch Brauch, dass Geschäfte erst nach dem Leertrinken der ersten Tazza besprochen werden, also nicht bevor der Gastfreundschaft genüge getan werden konnte. Wer diese Regel bricht hat kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Verhandlung.
Bei einem Rebhäuschen erreichen wir den Bergweg, der in wenigen Kehren durch jungen Wald zum Maiensäss Cortói hinaufführt. Spuren aufgelassener Terrassen weisen darauf hin, dass früher der gesamte Hang entweder für den Getreideanbau oder als Weideland genutzt worden ist, um wenigstens den Zurückgebliebenen ein karges Überleben zu sichern. In Cortói wenden wir uns gegen Südwesten dem Maiensäss Fosséi zu. In Cortói ed lá, gleich nach Querung eines Bachbetts, zweigt der breite Weg nach Porchesio (Porchèsg) ab, der sich durch lichten Birkenwald hochschlängelt (Abb. 1). Etwa in der Weghälfte führt ein kurzer Pfad leicht abfallend zu zwei grossen Schalensteinen, Sasc dai Crósg genannt. Solche finden sich auch andernorts im Tal, z. B. bei der Capanna Borgna in der Valle della Porta oder auf der Alpe Rognoi in der Val Carecchio. Sie sind Beweise dafür, dass sich Menschen bereits in früher Zeit in der Valle Verzasca aufgehalten haben.
Die Häusergruppen von Porchèsg liegen verstreut auf einer breiten Hangschulter. Die Aussicht hinüber zur Pyramide des Pizzo di Vogorno und über die Piano di Magadino hinaus zum Ceneri und Monte Tamaro ist herrlich. Schon hier wähnt man sich wie in einem Flugzeug. Doch es soll noch besser kommen. Bei den zentralen Häusern von Mòtt beginnt ein weiss-blau-weiss markierter Pfad, der zum Ostgrat des Madone (Madóm) hinaufleitet. Dieser bildete früher den Zugang zur Alp Redrísc, die wir leicht und schon nach kurzer Zeit erreichen. Im Herbst scheinen die zwei Alphütten in einem goldenen Grasmeer zu schwimmen (Abb. 2). Der Tiefblick in die Valle di Corippo mit seinen vielen Maiensiedlungen und weiter in das Haupttal hinein ist atemberaubend.
Vor nicht langer Zeit wurde der verbuschte, gegen Westen abgehende Verbindungsweg zur Alp Rocca (Aròca) hoch über der Valle di Mergoscia wieder in Stand gesetzt. Er führt durch jungen Birkenwald, der die früheren Weideflächen für damals wenige Kühe, dafür aber viele Ziegen wieder zurückerobert. Kurz vor der Alp begegnet uns tatsächlich eine kleine Herde autochthoner Nera Verzasca-Ziegen. Sebstbewusst beschnuppern die Tiere uns Fremde und holen ihre Streicheleinheiten ab, bevor sie Gämsen gleich in den Felsen über uns verschwinden. Das noch intakte Hauptgebäude von Aròca steht auf einer vorspringenden Geländerippe unter einem schützenden Felspfeiler im stotzigen Südhang des Madóm (Abb. 3). Die Mauern scheinen mit den umstehenden Felsen zu verschmelzen. In der Valle di Mergoscia ist nur der Südhang besiedelt. Die schattige Nordseite ist von Buchenwald bedeckt, dem Bosco di Faedo (Bósc do Faèd).
Über einen Zickzackpfad steigen wir steil nach Motto di Sopra (Mòta ed Zóra) ab. Der Weg umgeht dieses Maiensäss gegen Süden und führt zum Hauptweg des Tales hinab. Bergwärts liegen nur noch die Maiensiedlung Faèd und die Alp Biètri. Über Bresciádiga, Campitt, Sestríl und Campegliái gelangen wir nach Ranzói, wo wir in einer spitzen Kehre den markierten Weg gegen Südosten verlassen und uns einem ebenfalls breiten, aber kaum mehr begangenen Pfad anvertrauen, der uns sanft abfallend nach Lissói zurückbringt. Hier stossen wir wieder auf den zu Beginn eingeschlagenen Bergweg, über den wir die engstehenden Häuser des Dorfteils und den Ausgangspunkt unserer Wanderung erreichen (Abb. 4).
Fussnote: Die Orts- und Flurnamen werden nach der Erstnennung gemäss dem Repertorio toponomastico ticinese in der korrekten Dialektform aufgeführt.
Abbildungen
Abb. 1 Golden leuchtender Birkenwald im Aufstieg nach Porchèsg
Abb. 2 Redrísc mit Cima della Trosa
Abb.3 Aròca
Abb. 4 Routenverlauf