Chiesa San Bernardo
Ein Juwel über der Magadinoebene
Von Christian E. Besimo
Wie lässt sich erklären, dass sich hoch über Monte Carasso auf 800 Metern Höhe und verloren im Wald eine kleine Kirche findet, deren Innenwände mit Fresken des späten Mittelalters, der Renaissance sowie des Barocks geschmückt sind? Es ist heute nicht mehr augenfällig, aber die Magadinoebene war bis zur grossen Gewässerkorrektur im Bereich des Unterlaufs des Ticino, die am Ende des 19. Jahrhunderts in Angriff genommen wurde, eine von Malaria und regelmässigen Überflutungen heimgesuchte Sumpflandschaft. Während der Hochwasserkatastrophe von 1868 dehnte sich der Lago Maggiore bis nach Giubiasco aus. Zudem bildete sich hinter dem Schwemmkegel von Sementina und Monte Carasso ein weiterer See, der bis weit hinter Bellinzona in die Riviera reichte. Damals waren allein in der kaum besiedelten Magadinoebene fast 450 Gebäude von der Flut betroffen, heute wären es, ohne die Schutzmassnahmen rund 4000 Gebäude.1
Aus diesen Gründen beschränkte sich zu früheren Zeiten das Siedlungsgebiet auf erhöhte Lagen an den Rändern der Magadinoebene. Die Dörfer breiteten sich so hoch über die nach Süden ausgerichteten Talhänge aus, als es die Landwirtschaft erlaubte. In der Siedlung Curzútt, die heute den Charakter eines Maiensässes hat und zu der die Kirche San Bernardo gehört, haben über das ganze Jahr bis zu 900 Menschen gelebt. In den umliegenden Wäldern sind die zahlreichen Terrassen und Ruinen für das aufmerksame Auge noch immer gut zu erkennen.
Die zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert entstandene Kirche ist San Bernardo geweiht und hat bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts mehrere Um- und Anbauten erfahren (Abb. 1). Die ältesten Fresken, wie die Madonna del Latte und der Christophorus an der südlichen Aussenwand stammen aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die Darstellungen an der ursprünglichen Nordwand mit der Anbetung der drei Könige, der Kreuzigungsszene und dem Monatszyklus darunter aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die Fresken, die nach der Kirchenerweiterung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden sind, werden der berühmten Malerdynastie der Seregnesi aus Lugano zugeschrieben. Dazu gehört auch die bewegende Darstellung des letzten Abendmahls. Die jüngsten Fresken aus der Renaissance und dem Barock entstanden im Bereich der letzten Umbauten, also in der San Nicolao gewidmeten Kapelle auf der Südseite sowie im Chor im Osten (Abb. 2).2
In Erwartung dieser Bilderpracht fällt der stotzige und treppenreiche, dafür kurze Aufstieg nach Curzútt leicht. Wir starten in Monte Carasso beim ehemaligen Kloster der Augustinerinnen, das in der Mitte des letzten Jahrhunderts geschlossen und danach dem Zerfall überlassen worden ist. In den 1980ger Jahren wurden die Klostergebäude vom Architekten Luigi Snozzi zu einem modernen kommunalen Zentrum umgestaltet. Diese Neuinterpretation des traditonellen dörflichen Rahmens fand weit über die Landesgrenzen hinaus Anerkennung und wurde 1993 mit dem Wakker- sowie dem Prince of Wales-Preis ausgezeichnet. Beim Eingang der Kirche prangt neben anderen Fresken eine mächtige Darstellung des Christophorus. Die Legende besagt, wer am Morgen dem Christophorus begegne und ein Gebet an ihn richte, der könne über den Tag eines sicheren Geleits gewiss sein.
Wir wenden uns gegen Norden, überschreiten die Kantonsstrasse und folgen der Gasse in Richtung der von weitem sichtbaren, auf einem Felsen über dem Dorf stehenden Kirche SS. Trinita. Dort beginnt der alte befestigte Bergweg nach Curzútt und San Bernardo hinauf. Am Fuss des Kirchfelsens stossen wir auf die mächtige Talsprerre, die früher die gesamte Ebene bis hinüber zu den drei grossen Festungen von Bellinzona gegen Süden abgeriegelt hat. Wir folgen dem alten Saumweg nach San Bernardo zu den letzten Reben beim Weiler Lòri und überqueren dabei dreimal ein Fahrsträsschen. Beim Wasserreservoir biegen wir nach Osten ab und steigen über Tizott zum unteren Teil von Curzútt auf. Hier besteht die Möglichkeit zur Einkehr im Ristorante Ostello Curzútt, das in vorbildlich renovierten alten Häusern auch die Möglichkeit zum Übernachten in Vier- und Achtbettzimmern anbietet.
Der Weiterweg bringt uns kurze Zeit später gegen Westen zur Kirche San Bernardo. Der Schlüssel für die Kirche kann ausserhalb der Öffnungszeiten im Ristorante von Curzútt bezogen werden. Bergwärts der Kirche stehen das alte Pfarr- und Beinhaus. Für Friedhöfe wurde in früheren Zeiten nur wenig Boden geopfert, weshalb regelmässig alte Gräber für neue aufgelöst werden mussten. Die Knochen der Toten wurden in Beinhäusern untergebracht, im vorliegenden Fall in der darunter liegenden Grabkammer, die mit einer runden Steinplatte geöffnet werden konnte.
Nach dem Bilderreigen der Kirche erwartet uns der mässige Aufstieg durch jungen Wald zum sogenannten Ponte Tibetano, eine neu konstruierte Hängebrücke, die die Valle di Sementina in luftigen 180 Metern Höhe überspannt (Abb. 3). Auf der gegenüberliegenden Talseite erreichen wir die Ruinen von Selvatico und nach kurzem Anstieg die Hangschulter der Monti di Bassi. Hier zweigt talwärts der steile und erneut mit Treppen gespickte Pfad nach Sementina ab. Über dem Dorf stossen wir erneut auf Festungswerke der ehemaligen Talsperre und einen der Fortini della fame, die General Dufour als Infanteriewerke vor allem östlich von Camorino am Eingang der Valle Morobbia in Auftrag gegeben hat. Sie heissen Hungertürme, weil ihr Bau zur Beschäftigung der darbenden Bevölkerung und zur Vermeidung weiterer Auswanderungswellen genutzt worden ist. Die Brücke über die Sementina bringt uns nach Monte Carasso und an den Ausgangspunkt unserer an Eindrücken reichen Rundwanderung zurück (Abb. 4).
Quellen:
1 Brönnimann S et al.: Das Hochwasser, das die Schweiz veränderte. Ursachen, Folgen und Lehren für die Zukunft. Geographica Bernensia, G94, Geographisches Institut der Universität Bern 2018.
2 La chiesa di San Bernardo a Monte Carasso. www.parrochia-monte carasso.ch/documents/prospettoChiesaSanBernardo.pdf.
Abbildungen
Abb. 1 Chiesa San Bernardo
Abb. 2 Ausschnitte der Freskenzyklen an der Nord- (oben) und Südwand von San Bernardo (unten)
Abb. 3 Ponte tibetano, eine moderne und sichere Stahlkonstruktion
Abb. 4 Routenverlauf